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In der Schule aussortiert – im Studium erfolgreich
Viel wertvolles Potenzial wird bei unseren Schülern verschenkt |
Kommentar
Dass die Lesefähigkeiten und die Rechtschreibung von Schülern und Studenten korrigiert und bewertet werden, kann keine Verhandlungssache sein. Bei Lernenden mit attestierter LRS bzw. Legasthenie können die regulären Maßstäbe jedoch nicht verwendet werden. Das bayrische Konzept des Notenschutzes sollte für diese Schüler und Studenten angwendet werden, in allen Schulen und an allen Hochschulen in ganz Deutschland.
In Deutschland fehlen trotz der hohen Arbeitslosigkeit viele qualifizierte Fachkräfte und es laufen schon wieder
Anstrengungen, diese Kräfte im Ausland anzuwerben. "Wieso werden in Deutschland so viele Schüler wegen
Rechtschreibproblemen in der Schule aussortiert und auf der anderen Seite qualifizierte Mitarbeiter im Ausland
angeworben, die wahrscheinlich auch über keine besseren Rechtschreibkompetenzen verfügen, wenn sie dann
in einem Land arbeiten, wo sie erst mal die Sprache lernen müssen. Für mich macht diese Praxis absolut keinen
Sinn", so Fabian Joas, Mitglied im Bundesvorstand des BVL (Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.).
Fabian Joas ist selbst Legastheniker und hat eine Schulzeit hinter sich, die stellvertretend für viele Legastheniker
sein dürfte. "Schon seit meinen ersten Schultagen versagte ich kläglich in den Bereichen Lesen und Schreiben.
Egal ob Deutsch, Französisch oder Englisch, rein rechnerisch lagen meine Diktatnoten eher im Bereich
zwischen 10 und 12", sagt Fabian Joas mit einem Schmunzeln. Heute kann er alles viel gelassener sehen, denn
Dank des noch zur rechten Zeit in Kraft getretenen Erlasses in Bayern, konnte er 2001 sein Abitur machen. Ohne
diesen Nachteilsausgleich, der ihm einen Notenschutz bei Rechtschreibleistungen sowie Zeitverlängerungen
bei den Prüfungen gegeben hat, würde er heute kein Abitur haben. Sein Studium der Politikwissenschaft und
Volkswirtschaftslehre läuft nun ohne jegliche Probleme, obwohl er jede Menge Literatur und Fachzeitschriften
bewältigen muss. Die Nutzung des Computers ist an der Universität selbstverständlich und so kann er seine
Legasthenie problemlos bewältigen.
Fabian Joas sieht das größte Problem in unseren Schulen in dem Wunsch nach "genormten" Schülern. Es stehen
die Schwächen im Vordergrund und werden bewertet, anstatt die Stärken von Schülern zu sehen und darauf
aufzubauen. "So verschwendet man viel Zeit, alle Schüler auf ein Durchschnittsniveau zu bringen, anstatt die
vorhandenen Talente von Schülern auszubauen und sie in Berufsfelder zu führen, wo ihre Talente gebraucht
werden", erklärt Joas. |
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Fabian Joas studiert in Großbritannien und ist begeistert, wie perfekt man dort mit Legasthenikern
umgeht. Mit Schulbeginn bis zum Studienabschluss nimmt man Rücksicht auf die Legasthenie und
verschafft den Schülern die notwendige Unterstützung. "Ich war, als ich ein Jahr in der Oberstufe in den USA
war, positiv überrascht, wie unproblematisch der Umgang mit Legasthenikern gehandhabt wurde und wie ein
Nachteilsausgleich eine Selbstverständlichkeit war. Wie oft musste ich mir in Deutschland anhören, dass ich zu
dumm und zu faul sei und Legasthenie nur eine Entschuldigung für Kinder, die sonst nicht die Schule schaffen",
kritisiert Joas.
Den Vorwurf, man würde Legasthenikern durch Nachteilsausgleiche Vorteile verschaffen, lehnt
Joas mit folgender Argumentation ab: "Wenn jemand ein zu kurzes Bein hat und nur humpeln kann, hilft es auch
nichts, jeden Tag das Laufen zu trainieren. Im Hundertmeterlauf wird er immer langsamer sein als die anderen in
der Klasse. Logisch und gerecht ist es, diesen Schüler im Sportunterricht nicht zu bewerten oder nur in den Disziplinen,
an denen er teilnehmen kann. Selbiges sollte für Legastheniker gelten, denn die Kompetenz nur an den
Rechtschreibfertigkeiten zu bewerten ist überholt. Im Zeitalter von Computern, die die Rechtschreibung korrigieren,
dürfen die Rechtschreibfertigkeiten nicht überbewertet werden."
Es ist an deutschen Schulen noch immer an der Tagesordnung, Legastheniker auf Schulen auszusortieren, die
weit unter ihrer Begabung liegen und ihnen damit den Zugang zum Studium zu versperren. Dabei sind die meisten
Legastheniker, wenn sie sich auf ihre Stärken konzentrieren können, im Studium sehr erfolgreich. Legastheniker
haben in Deutschland bis heute keine Chancengleichheit. Schaut man über die Landesgrenzen hinaus,
gehört Deutschland zu den Entwicklungsländern im Umgang mit Kindern mit Teilleistungsschwächen. Bildung ist
gerade für Deutschland einer der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren und das Potenzial von Legasthenikern und
Dyskalkulikern wird in Deutschland einfach verschenkt!
Quelle
04.08.2006, Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., www.bvl-legasthenie.de
Tags
Lese-Rechtschreib-Störung LRS Lese-Rechtschreib-Schwäche Legasthenie Dyskalkulie Leseschwäche Rechtschreibschwäche
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